Direkt zum Inhalt
Bild
Header Hochdrucklautsprecher vor Bäumen

Die Stofftaschenfraktion grüßt aus dem Freizeitpark

Stuttgarter Zeitung vom 26. August 2004

Beim Freien Radio Stuttgart machen 58 Redaktionen ein Programm, das jeden noch so exotischen Musikgeschmack bedient
Von Christine Keck

Es gibt Momente, in denen Handys schweigen sollten. In der Oper, beim Bewerbungsgespräch oder wenn das Mikro im Sendestudio "offen" ist. So wie neulich. Plötzlich piepst es, und tausende in Stuttgart hören zu. Den Moderator Gün stört das nicht die Bohne - auch nicht, dass das Fenster im Studio geöffnet ist und sich der Verkehr von draußen in die Elektroklänge mischt. Da nutzt der knallorange Flokatiteppich als Lärmschlucker an der Wand nichts. Gün drückt seinen Mund gegen das Anarchie-A, das irgendwer mit einem Filzstift auf den Schaumstoffball am Mikrofon gezeichnet hat, und quatscht, dass die Zunge immer länger wird, sich bald verknäuelt und nur ein unverständliches Flüstern übrig bleibt. Das quengelnde Handy gibt unterdessen nach, hält endlich still.

DJ Gün, ganz schön drahtig, mit einem Bärtchen wie Johnny Depp, bringt so schnell nichts aus der Ruhe. Ohne Skript, ohne Stichwörter legt er in der Sendung "Hyperground" los - quatscht über Gott und die Welt, lässt P-Funker George Clinton hochleben, beschimpft den Kinofilm "Spiderman 2" als "grob mies". Sein Partner mit dem Künstlernamen Roglok lässt die Scheiben kreisen.

Auf einem Langstreckenflug neben Gün zu sitzen wäre der ultimative Härtetest. Ohne Punkt und Komma, als wollte er der Quasselstrippe Dieter Thomas Heck Konkurrenz machen, textet der 23-Jährige wie ein Weltmeister. Güns Geständnis "Ich plaudere Blödsinn, seit ich denken kann" nimmt man ihm nicht so recht ab, denn der Mann hat Ahnung und eine Stimme, die aufhorchen lässt.

Beim Freien Radio Stuttgart kommt jeder zu Wort. Profis wie Gün oder neugierige Anfänger, die nach drei Silben Luft schnappen und vor lauter Versprechern den roten Faden verlieren. In "Denge Welat" funken die Kurden, die Poeten dürfen in "MiNaLy" Mitternachtslyrik rezitieren. Wider den Sexismus heißt es beim Frauen-Lesben-Radio, auch der Schwulfunk hat seinen Platz.
So extravagant wie die Macher sind die Formate: "Du läufst niemals allein" ist keine Partnervermittlung für Jogger, sondern eine Fußballsendung. "Sexy Kapitalismus" stellt im Untertitel die waghalsige These auf: "Pop ist eine Pizzaschachtel". Und "Klangkonfekt" serviert elektronische Experimente. 58 Redaktionen mit zweihundert Aktiven und drei Hauptamtlichen, zuständig für Presse, Technik und Verwaltung, beleben das Programm, sieben Tage die Woche von elf Uhr morgens an bis nach Mitternacht, mit einem Jahresbudget von 50 000 Euro. So eine Mischung bieten nur die nicht kommerziellen Radios, eine Vielfalt und Internationalität, wie sie sonst nirgends zu finden ist.

Sie wollen nicht perfekt sein. Die Frequenz 99,2 steht für Toleranz, Unabhängigkeit, Freiheit von nervenden Werbeblöcken - und für ein bisschen Durcheinander. "Die allererste Sendung begann mit einem Fünfminutenloch", erinnert sich der Pressesprecher Oliver Hermann an die Anfänge im Herbst 1996. Schon nach einem Einführungswochenende in Theorie und Technik dürfen die Neuen ans Mikro. Wer die Grundspielregeln beachtet, weder frauenfeindliche Witze reißt noch rassistische Botschaften verkündet, kann sich versuchen - ein Experimentierfeld für alle Geschmäcker.

In der Rieckestraße im Osten Stuttgarts hat das Radio sein Domizil. Oben die Ballettschule, drunter die Adventgemeinde - die heterogene Umgebung passt. Professionell eingerichtet, drei Studios mit Mischpulten und Minidiscplayern, ein paar antiquierte Kassettengeräte stehen herum. Jede Redaktion hat ihr Fach, das von der Greenpeace-Truppe quillt über. Jede Redaktion muss eine Woche im Jahr putzen - das Prinzip funktioniert. Obwohl es keine Spülmaschine gibt, ist die Küche tipptopp aufgeräumt. Schimmelkulturen haben keine Chance, zumindest diese Woche nicht. Sogar der Getränkeautomat ist voll, darum kümmert sich die AG Sprit.

Beats und Basisdemokratie - das beißt sich beim Freien Radio nicht: Am ersten Mittwoch im Monat trifft sich das Redaktionsplenum, dann geht"s zur Sache, werden die Sendungen gelobt und zerpflückt. "Zu viel Techno" schimpft der eine, "unerträglicher Märchenonkelstil" wütet der andere. Unmut stiften Rapsongs mit Texten, die nicht politisch korrekt sind. Attacken gibt es nicht nur aus den eigenen Reihen: "Geheimsender der Terror-Kurden" titelte die "Bild"-Zeitung im Februar 1999 in Anspielung auf die Beiträge der Redaktion Kurdistan und entblößte sich damit selbst. Das Boulevardblatt musste klarstellen, dass das Freie Radio ein nach dem Landesmediengesetz genehmigter Sender ist. Die Radiomacher triumphierten.

Wie im Aquarium blubbert DJ Gün vor sich hin, verwechselt das Mikro mit dem Tagebuch. Er erzählt, dass seine Freundin schwanger ist und lässt sich über Nahtoderfahrungen aus, bis die Tür aufgeht und die Fünfertruppe mit den Stofftaschen kommt. Punkt 17 Uhr gibt es "Grüße aus dem Freizeitpark" - die Senioren- und Arbeitslosenredaktion. Statt der Band Bodenständig 2000 oder den hemmungslosen Rappern von Cannibal Ox darf Altrocker Udo Lindenberg krächzen - ein Aufbautraining für die Ohren. Wem der krasse Programmwechsel nicht passt, der sollte später wieder einschalten. Vom Band kommt ein Interview mit einer Vorzeigekämpferin von einem Eltern-Kind-Zentrum. Klaudia Hänsch hört gespannt zu. Die 69-Jährige mit dem wallenden grauen Haar macht seit Januar beim Freien Radio mit, sie ist für Inhalte verantwortlich, ihr Mann Klaus für die Technik. "Die jungen Leute sind wirklich nett", sagt die ehemalige Verwaltungsangestellte und fühlt sich unter den "Sonderlingen" der Freizeitparkredaktion wohl, wie sie betont. Als Mitglied der Grauen Panther ist sie politisch aktiv, will den Ruhestand nicht zu Hause auf dem Sofa verbringen, sondern gehört werden - im Radio zum Beispiel.

Auch Karl Sauter ist so ein Umtriebiger, ein Vollblutschwabe im Karohemd mit rotem Rauschebart, einer der anpacken kann, der als Radiotechniker das Studio mal kurz umbaut. 55 Jahre alt ist er - und aufgeregt vor jedem Satz, den er live ins Mikro sagt, als könnte ihn ein nicht vorhandener Chef rauswerfen. Über eine Ausstellung mit Fotos von Obdachlosen erzählt er, den Bericht hat er gut vorbereitet, er muss nur den Knopf drücken. Ins Schwitzen kommt er wegen einer Panne. Ein Hänger auf der Minidisc, der Ton stockt, plötzlich herrscht Aufregung im Laden. "Da hat mir einer reingespuckt", ruft Karl. "Schaltet eure Handys aus", schreit es aus der Ecke. Sekunden des Chaos, alle stehen auf, wildes Hantieren am Regler, bis das Band wie durch ein Wunder wieder läuft.

"Es ist überstanden", schnauft Karl, und sein Radiokumpel Sigmar, der bekennende Bolschewik, lächelt entspannt. Fast nur ist es überstanden. Karl muss nochmal ans Mikro, abmoderieren. Er holt tief Luft, die Stimme zittert: "So, das war es wieder aus dem Freizeitpark", sagt er und schiebt eine Entschuldigung fürs Malheur nach. Dann Regler runter und Schluss. Alle atmen aus. "Sagenhaft" jubelt Sigmar, Karl wischt sich den Schweiß von der Sommersprossenstirn: "Nix wie raus." Die Truppe packt die Stofftaschen zusammen und zieht zur Tür, die Ablöse drängelt. Alle scheinen irgendwie froh, dass es mal wieder vorbei ist.