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Wollen wir nicht, können wir auch nicht

Stuttgarter Zeitung, 24.9.2016

Wollen wir nicht, können wir auch nicht
Von Michael Setzer

Geburtstag Torten raus! Das Freie Radio für Stuttgart wird zwanzig Jahre alt. Seit zwei Dekaden sendet der Verein widerborstig aus der Nische. Da raus will er auch in Zukunft nicht. Mehr Sendeleistung wäre dennoch ein ganz schönes Geschenk. Von Michael Setzer

Es ist Montag, der Tag mit dem chronischen Imageproblem. Kaum einer mag den Montag in vollem Umfang leiden. Dazu ist es auch noch fa st 23 Uhr - höchstens ein guter Zeitpunkt, sich auf Dienstag, bessere Tage oder eben ein Bett zu freuen. Jens Rank müsste jetzt nicht hier im fast verwaisten Sendegebäude des Freien Radios für Stuttgart (FRS) im Stuttgarter Osten nach dem Lichtschalter im Treppenhaus tasten. Der Mann hat Spätschicht an der Oper gearbeitet, ist Grafiker,
Illustrator, Zeichner, Künstler oder ganz einfach als DJ Jens-O-Matic bekannt. Rank könnte jetzt bei seiner Frau sein, im Bett, irgendwo.
Doch seit fast 16 Jahren macht er einmal im Monat seine Sendung " EI Ritmo Primitivo". Er spielt Platten, die ihm gefallen, und empfiehlt Konzerte und Veranstaltungen, die er auch selbst besuchen würde. Das Motto der heutigen Sendung: "What's new in de Box?" Im Internet nennt man das "Haui", montagnachts im FRS bedeutet diese Shopping-Schau: eine Plattentasche voll mit Singles und LPs frisch vom örtlichen Flohmarkt.
Edouard" steht auf einer. Darauf abgebildet: ein Kerl mit Gitarre, viel zu langen Haaren, Bades horts und Flipflops. Die Musik: psychedelischer Beatpop aus Frankreich mit viel Hüfte. Unentwegt singt dieser Edouard "Mon nom est Edouard", und die Platte heißt grob übersetzt "Die Halluzinationen von Edouard", erschienen 1966. Undenkbar, dass ein " normaler" Radiosender ein solches Lied jemals ins Programm aufnehmen würde. So etwas kann höchstens Götz Alsmann beim WDR. Und eben Jens Rank. Der tut's, weil er will und weil er darf. Denn auch dafür ist das Freie Radio für Stuttgart seit nun zwanzig Jahren da: Unabhängigkeit und Selbstbestimmung.
"Wir haben keine Bestrebungen, irgendwann wie die anderen Sender zu werden", sagt Oliver Herrmann. "Wir sind klein, trotzdem eine Menge Leute - ich denke, das macht uns aus, und das ist unsere Qualität." Der 49-Jährige arbeitet von Beginn an beim FRS. Damals gab es noch nicht mal eine Sendefrequenz, und der Verein war noch nicht einmal in der Falbenhennenstraße beheimatet. Zwei Umzüge, bessere Technik und einen Sendemast an der Müllverbrennungsanlage in Münster später kann sich das FRS endlich der eigentlichen Arbeit widmen: Radio machen, statt Kämpfe um Obdach und Reichweite zu führen. Und das alles ohne jegliche Werbepartner, sondern finanzi ert mit Fördergeldern der Landesmedienanstalt für Kommunikation (LfK) und einem Förderverein.
"Wir arbeiten hier Low Budget. Mittlerweile haben wir einen ganz guten Standard erreicht. Das ist aber nicht mit dem zu vergleichen, was bei SWR, Antenne oder Big FM rumsteht", meint Herrmann. ,,Aber gutes Radio ist keine Frage von Technik. Da geht es vielmehr um Konzepte, Inhalte, Ideen, Botschaften - Kreativität." Und das alles kommt nicht nur von Musikredaktionen wie Code Red (Drum 'n' Bass) oder No Front (Metal, Hardcore und Punk), die seit Sendebeginn mit dabei sind, sondern auch von der Inforedaktion oder dem sogenannten Community Radio. Da gibt es beispielsweise fremdsprachige Sendungen für Eritreer, Kurden, Athiopier oder das "Refugee Radio", bei dem Flüchtlinge mehrsprachige Sendungen für andere Geflüchtete machen. Im FRS werden medien pädagogische Projekte und Schulklassen angeleitet, Jugendliche dürfen Sendezeit nutzen. Ahnliches gil t auch für die angestammten Redaktionen: reinkommen, Technik lernen und dann"einfach machen".
Das Programm des FRS ist ein wahrhaftig wahnwitziger "Flickenteppich". Rund 250 Radiomachende liefern hier Hörspiele, Quatsch, Kultur, Antifaschismus, Jugendhausradio, Jazz, Punk, Pop, Techno, Lärm, Avantgarde - wenn es sein muss, wird auch mal zur besten Sendezeit ein kapitalismuskritisches Pamphlet holprig, aber durchaus betroffen vorgetragen. Spätestens wenn die Morning-Show "Morgenlatte – Theoriegewichse vom Feinsten" heißt, schwingt auch mal etwas Selbstironie mit. Läuft gerade keine Sendung, gibt es Musik von der regelmäßig neu und liebevoll bis grotesk bestückten Endlosdisc.
Die ursprüngliche Verklärung, man betreibe hier "Gegenöffentlichkeit von unten", hat sich längst als unrealistisch er wiesen. Der Flickenteppich des FRS ist ein Teil der Öffentlichkeit, mit allen Widersprüchen, selbst im hauseigenen Programm. "Ein netter, zuweilen schräger, aber liebenswert charmanter Laden", sagt Herrmann. Als Abbild der Stadt oder deren Kultur will Herrmann das FRS dennoch nicht verstanden wissen. "Wir wollen Nischenbereiche bedienen, die sonst zu kurz kommen oder überhaupt keine Chance hätten. Wenn, dann vermitteln wir höchstens ein realistisch eres Bild der Stadt als die Außen stelle des Stadtmarketings. Stuttgart ist derartig vielfälltig, wir können da gar nicht alles abbilden. Wir haben ja eine politische Stoßrichtung, die einiges von vornherein ausschließt." Dass dies nicht unbedingt zum Hörvergnügen der breiteren Masse beiträgt, weiß jeder beim Freien Radio: Hermann: "Wir haben größtenteils eine Hörerschaft, die sich gezielt einzelne Sendungen anhört."
Die mangelhafte Reichweite der Sendewellen, die es selbst in der Stadtmitte oft unmöglich macht, FRS zu empfangen, ist kein Problem mehr. Herrmann, der sich hauptsächlich um die Öffentlichkeitsarbeit des Senders kümmert, grinst und sagt: "Wir senden weltweit! Am Computer, Handy, dem Tablet ist es mittlerweile problemlos möglich, Radio zu hören. Aber natürlich wäre es wünschenswert, im ganzen Stadtgebiet terrestrisch empfangbar zu sein."
Auch das ist eine positive Begleiterscheinung der digitalen Welt: Seit sich Radiostationen vermehrt dem Streaming und Podcasts widmen, erfreut sich das Medium neuen Zuspruchs. Auch hausintern. Vor einigen Jahren hätte DJ Jens-O-Matic beispielsweise fast sein Engagement im FRS beendet, zweifelnd, ob s ich all der ehrenamtliche Aufwand im Funkhaus überhaupt lohnte - "ob da überhaupt jemand zuhört". Dann kamen Facebook, das Streaming und die damit verbundenen neuen
Möglichkeiten, inklusive prompter Hörerrückmeldung via soziales Netzwerk.
Kurz vor Mitternacht legt Rank eine Single von Udo Jürgens auf, "Peace Now!", singt der da, später folgen The Professionals, eine britische Punkband, und dann ein Stück von Özel Türkbas' Bauchtanzplatte "How To Bellydance For Your Sultan". Und natürlich ließe s ich vieles hier als
Kuriositätenkabinett oder Freizeitvergnügen idealistischer Nerds abtun, doch die Sorgfalt, mit der hier Themen aus Kunst und Kultur behandelt werden, beeindruckt. Denn dieser "Untergrund" macht den Mainstream überhaupt er st möglich. Alles Gute, Freies Radio für Stuttgart.

Fest,,20 Jahre FRS" wird an diesem Samstag von 14 bis 22 Uhr im Hof des Sendehauses, Stöckachstraße 16a, gefeiert.


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DER SENDER DER EHRENAMTLICHEN
Frequenz Das Freie Radio für Stuttgart e. V. sendet auf 99,2 (Antenne) und 102,1 (Kabel). Den Livestream im Internet gibt es unter www.freies-radio.de. Ungefähr 250 Mitarbeiter zeichnen größtenteils ehrenamtlich für das Programm des Senders verantwortlich.
Name Der Zusatz "für Stuttgart" liegt im bestehenden Markenrecht begründet. Unter Androhung eines Zwangsgeldes untersagte der damalige Süddeutsche Rundfunk (SDR), heute SWR, 1996
die Verwendung von "Radio Stuttgart". Aus "Freies Radio Stuttgart" wurde so "Freies Radio für Stuttgart".
Finanzierung Der Sender lebt von Fördergeldern der LfK und Mitteln, die ein Förderverein bereitstellt. Wer Mitglied werden möchte: www.freiesradio.de. StZ

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