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Seine Waffe war das Wort: Guillermo Aparicio – Nachruf

Kontext Wochenzeitung Ausgabe 532, 09.06.2021

Guillermo Aparicio – Nachruf
Seine Waffe war das Wort
Von Dietrich Heißenbüttel

Guillermo Aparicio hat Stuttgart verändert – auch wenn er nie groß im Rampenlicht stand. Das Stuttgarter Modell des Zusammenlebens aller Menschen gleich welcher Herkunft geht auch auf ihn zurück. Nun ist er im Alter von 81 Jahren gestorben.

Immer montags um 15 Uhr lief in den ersten Jahren des Freien Radio für Stuttgart, ab 1996, die Sendung Mosaik. Mosaik: Das waren Necibe und Orhan Günyel – ein Bruder von Muhterem Aras – und Guillermo Aparicio. Mit Baskenmütze und Vollbart erinnerte Apa, wie er von Freunden genannt wurde, ein wenig an Che Guevara oder Ernesto Cardenal, den Kulturminister des sandinistischen Nicaragua, mit dem ihn einiges verband: Beide waren einmal Priester gewesen, beide standen politisch links, beide schrieben Gedichte.

Während Cardenal eine berühmte Persönlichkeit war, ist Aparicio selbst in Stuttgart nur denen, die ihn gekannt haben, in lebendiger Erinnerung geblieben. Nach dem Umzug nach Winnenden 2001 und einem langen gesundheitlichen Leiden, infolgedessen er sich immer mehr aus der Öffentlichkeit zurückziehen musste, ist es stiller um Apa geworden. Dabei kann man zu Recht sagen: Ohne ihn wäre Stuttgart heute eine andere Stadt.

"Das Stuttgarter Modell zur Integration ist so erfolgreich, dass es weltweit als Vorbild dient", rühmt sich die Stadt auf ihrer Homepage. Dass es dazu kam, daran hatte Aparicio einen wesentlichen Anteil. Denn das war keineswegs schon immer so. Bis 1989 gab es im Gemeinderat keinen einzigen Mandatsträger und keine einzige Mandatsträgerin mit Migrationshintergrund, wie es heute heißt – auch den Begriff gab es damals noch nicht.

Apa, einer der Väter der STOLZ
Was es gab, war seit 1982 "Das Werk", eine Art soziokulturelles Stadtteilzentrum für den großen Stuttgarter Osten: gewerkschaftsnah, ins Leben gerufen von dem Künstler Wolfram Isele, "damit die Arbeitszeitverkürzung nicht für die Glotze ist", wie es auf einem Plakat hieß. Aber das Projekt war bedroht. "5 Jahre auf dem Schleudersitz" lautete der Titel einer Veranstaltung 1987. Das Grundstück in der Gablenberger Hauptstraße stand vor dem Verkauf. Das Haus sollte abgerissen werden. Im ehemaligen Straßenbahndepot am Ostendplatz ging "Das Werk" bald darauf in ein zweites Jahrzehnt.

In dieser Situation und im Kontext der Proteste gegen die Volkszählung gründete sich 1988 die "Stuttgarter Osten Lokalzeitung", abgekürzt STO oder auch STOLZ. Elf Jahre lang erschien das Blatt, zehnmal im Jahr, im großen Format. Es hatte bis zu 300 Abonnenten und fand weit über den Stadtteil hinaus Beachtung. Apa gehörte mit Isele und Harald Stingele zu den Gründern. Und er hat oftmals die Hälfte des Hefts vollgeschrieben. "Eine neue Stadtteilzeitung sollte dazu beitragen, eine kritischere öffentliche Meinung zu schaffen", meinte er rückblickend. Sie wollten "unbedingt über Probleme und Ereignisse in unserem Stadtteil berichten, die die etablierten Blätter zu wenig aufgriffen".

"Exoten ins Rathaus", überschrieb Apa einen zweiseitigen Artikel vor der Gemeinderatswahl 1989. Niemand anders hätte es so formuliert: frech, direkt, entwaffnend. Es gab eine Kampagne "EinwanderInnen ins Rathaus!" Die Strategie war, die Grünen, die damals zehn Gemeinderäte stellten, dazu zu bringen, "mindestens zwei EinwanderInnen mit deutschem Pass auf wirklich sichere Plätze zu setzen", wie Aparicio schrieb. Die Grünen waren nicht abgeneigt. Einen sicheren Listenplatz wollte dann aber doch keiner freiwillig räumen.

Es endete mit einem Kompromiss: Gordana Golubovic aus Jugoslawien – damals noch ein einziges Land – kam auf Platz eins. Auf Platz 10 und 11 folgten Aparicio und die iranische Stadtplanerin Shahla Blum, weiter hinten Leila Süngerli. Freilich wollten die Grünen-WählerInnen auch mehr Frauen im Rathaus sehen. Durch Kumulieren und Panaschieren brachten sie Blum nach vorn, sodass schließlich, bei sieben grünen Abgeordneten, sie und Golubovic als erste Migrantinnen ins Rathaus einzogen.

Treibende Kraft und Teamplayer
Aparicio ist kein Politiker geworden. Aber er war oftmals die treibende Kraft – wenn auch nicht allein, er war vielmehr ein ausgesprochener Teamplayer. Mit Sami Aras, heute Vorsitzender des Forums der Kulturen, gründete er, ebenfalls im Stuttgarter Osten, den Verein Mosaik. Zu den Weggefährten gehörten Peter Grohmann, Gari Pavkovic, heute Leiter der Abteilung Integrationspolitik der Stadt Stuttgart, und Gökay Sofuoğlu, heute Bundesvorsitzender der türkischen Gemeinde in Deutschland.

Aparicio schrieb nicht "EinwanderInnen", er schrieb "Exoten ins Rathaus". Diese ganze Trennung zwischen Deutschen und Nichtdeutschen war ihm zuwider. Den 17. Juni 1989 funktionierte er um zum "Tag der deutschen Vielheit", sprach ironisch von "nichtdeutschen InländerInnen" und stellte dem seit 1975 bundesweit veranstalteten "Tag des ausländischen Mitbürgers", heute Interkulturelle Woche, einen "Tag des deutschen Mitbürgers" gegenüber. "Die Menschen, die in einer Stadt leben, müssen das Recht haben zu bestimmen, was da passiert", so beschreibt Stingele Aparicios Haltung.

Auf einer großen Veranstaltung im Theaterhaus interviewte er Oberbürgermeister Manfred Rommel. Der zeigte sich angetan von Aparicio und seinen Ideen – ganz anders als manche seiner CDU-Parteigenossen. Dies war der eigentliche Beginn des viel gerühmten Stuttgarter Wegs zur Integration. Ob es ums Kochen ging oder um Literatur: Aparicio war gern unter Menschen, und er organisierte die Anlässe dafür. "Tropisches Deutschland" hieß eine Reihe, zu der er Autoren wie Zafer Şenocak oder José F. A. Oliver in die Stadtbücherei einlud.

Um zu verstehen, wie er dazu kam, muss man etwas über seine Herkunft wissen. 1940 in Miranda de Ebro, an der Grenze zum Baskenland geboren, ist Aparicio in der Franco-Diktatur aufgewachsen. Sein Vater war bei der Guardia Civil. Im Alter von vier Jahren lernte er lesen und schreiben und übersprang dann auf Anhieb zwei Klassen. Damals suchten die Jesuiten aktiv nach hochbegabten Kindern. So kam er ins Internat, studierte Philosophie und Theologie und wurde für kurze Zeit Priester. Den Jesuiten verdankte er, wie er selbst sagte, seine umfassende Bildung.

In einer Veranstaltung in München lernte er seine spätere Frau Josefine Vogl kennen. Für sieben Jahre blieb es beim Briefkontakt. Und es wäre dabei geblieben, wäre er nicht in der Zwischenzeit zu der Erkenntnis gelangt, dass es Gott nicht gibt. Er bat Papst Paul VI. um Suspendierung vom Priesteramt – was der ablehnte. Dennoch zog er nach Berlin, heiratete, ging nach Aachen als evangelischer Studentenpfarrer, dann zu Brot für die Welt und nach Stuttgart. Damit kehrte er der Kirche endgültig den Rücken.

Ein Künstler der Andeutung, ein Wegbereiter
Er unterrichtete Spanisch und schrieb Gedichte – auf Deutsch. Sein Sprachunterricht war kein gewöhnlicher, denn er machte seine Schüler auf die feinen Unterschiede zwischen den Sprachen und Mentalitäten aufmerksam. Und auf die Künste der Andeutung, die in Diktaturen eine so wichtige Rolle spielen. Daraus entstand die Buchreihe "Spanisch für Besserwisser" – der Renner des Schmetterling Verlags, der die Reihe in anderen Sprachen fortführte, während Apa, der gern kochte, zwei Bändchen "Spanisch für Besseresser" hinzufügte.

"Das jüngste Gericht" heißt ein weiteres Buch von ihm. Es trägt den Untertitel "Was kocht im Stuttgarter Osten?", hervorgegangen aus einer Reihe im "Werk". "Lob der Pellkartoffel" ist ein "literarisches Kochbuch für Deutsche, Halbdeutsche und Undeutsche". Den Titel "Der Schlangenkunde" muss man zweimal lesen. Ja, da steht der maskuline Artikel, denn es geht um den Kunden, der Schlange steht.

Im Freien Radio diskutierte er mit Harald Stingele über den Gablenberger Schmalzmarkt: ein beliebter Platz im Zentrum des beschaulichen Stadtteils. Doch wo heute ein Brunnen steht, war ein jüdischer Hausbesitzer enteignet worden. Damals gab es in Stuttgart noch keine Stolpersteine. Und wie Harald Stingele sagt, hatten sie auch von dem Kölner Künstler Günter Demnig noch nichts gehört. Allerdings hatten sie 1988, fünfzig Jahre nach der Reichspogromnacht, begonnen Zeitzeugen im Stadtteil zu befragen, um das Schweigen über die NS-Geschichte zu durchbrechen. Daraus wurde 1998 die Stolperstein-Initiative Stuttgart-Ost, die dann auf andere Stadtteile übergriff.

Die Stolperstein-Initiative, das Forum der Kulturen, das Deutsch-Türkische Forum, das Sommerfestival der Kulturen, das Bündnis für Integration und der Integrationsbeauftragte: Das alles entstand erst um die Jahrtausendwende. Aparicio hat dafür das Feld bereitet – mit vielen Anderen, ohne ihn wäre Stuttgart nicht die Stadt geworden, die sie heute ist.

"Mein Freund wollte die Welt verändern", so beginnt eines seiner Gedichte bezogen auf die Franco-Diktatur, "und er war kein Schwätzer./ Er wurde gesucht/ gefangen/ gefoltert." Apa hatte ein untrügliches Gespür für Menschen, für ihre Haltung, ob in Spanien oder in Deutschland. "Meine Nase ist eine feine Antenne", heißt es in einem anderen Gedicht, "sie warnt mich vor Feinden/ sie verrät mir/ wem ich vertrauen kann."

"Brooklyn soll mein Name sein" von Eduardo Lago heißt das letzte Buch, das Aparicio, beinahe blind, mit Unterstützung übersetzt hat. Es soll im September erscheinen. Sein letztes eigenes Buch erschien 2015 und geht weit zurück in die Geschichte der spanischen Literatur – und seine eigene Vergangenheit. Es besteht aus 25 Briefen – in deutscher Sprache – an Don Miguel de Cervantes, den Verfasser des "Don Quichotte": das erste Buch, das Apa besaß. Cervantes bezeichnet er als seinen "geschätzten Lehrer": als Ironiker und Satiriker.

Dem Büchlein hat Aparicio vier Zeilen aus einem Gedicht des 1942 jung verstorbenen spanischen Autors Miguel Hernandez vorangestellt: "Und wenn unter der Erde/ mein liebender Körper liegt/ schreibe mir an die Erde/ und ich schreibe Dir zurück."

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