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"Der w..w..weite Weg nach Worcester"

Stuttgarter Nachrichten, 16.9.2012

Radio für Stotterer
Der w..w..weite Weg nach Worcester
Christoph Meyer

Woher kommst du? Diese Frage hat Mark Lawrence früher regelmäßig ins Schwitzen gebracht. Nicht weil der inzwischen 46-Jährige seine Adresse nicht gekannt hätte. Mark Lawrence ist Stotterer.

Er lebte in seiner Jugend einige Jahre in Worcester, einer Stadt in Mittelengland. Hierzulande meist nur bekannt wegen der gleichnamigen Soße. Die korrekte Aussprache des Städtchens geht den meisten Hobbyköchen jedoch ab. „Wusta“ – so ungefähr klingt der Ortsnamen aus dem Mund eines Briten.

Für Mark Lawrence war das lange Zeit ein unaussprechliches Wort. Deswegen hat er Fragen nach seinem Wohnort stets ausweichend beantwortet. „Ich habe zuerst immer gesagt, ich komme aus Mittelengland, wenn dann weiter gefragt wurde, habe ich das Gebiet nach und nach eingekreist, bis der Fragesteller selbst auf die Antwort kam.“ Ein ziemlich weiter Weg nach Worcester sei das gewesen, sagt Mark Lawrence und lacht.

Heute macht er keine Umwege mehr wegen seines Sprachfehlers. Es dauert lange, bis sein Redefluss zum ersten Mal stockt. Mark Lawrence sitzt im Studio des Freien Radios in der Rieckestraße in Stuttgart. Von dort aus wird etwa fünfmal im Jahr der Stotterfunk gesendet. Es ist ein Radioprogramm, das ausschließlich von Menschen gemacht wird, die einen Sprachfehler haben.

„Alles an mir war Deutsch, bis auf die Sprache“

Sch..sch..Stotterfunk, das ist die Ansage zu Beginn der Sendung, die immer wieder das Stottern zum Thema macht. Mal ist eine Therapeutin zu Gast, mal wird ein Film vorgestellt, bei dem es um das Stottern geht. „Wir wollen zeigen, dass Menschen mit Sprachfehler auch in Bereichen arbeiten können, in denen es hauptsächlich um Sprache geht“, sagt Lawrence. Immer mal wieder bleiben die Moderatoren im Laufe der Sendung an einem Wort hängen. Dann entsteht für ein paar Sekunden eine dröhnende Stille. „Das gehört dazu, sonst wäre das nicht der Stotterfunk“, sagt Lawrence.

Sprache liegt ihm eigentlich. Der Sohn eines britischen Soldaten von der Karibikinsel Barbados, die früher britische Kolonie war, ist zweisprachig aufgewachsen. Der Vater sprach Englisch mit ihm, die Mutter Deutsch. Nachdem die Familie einige Jahre in verschiedenen Städten Deutschlands gelebt hatte, wurde der Vater nach England versetzt. In England begann Lawrence nach und nach die deutsche Sprache zu vergessen. „Für mich war das eine Katastrophe“, sagt er. Obwohl der gelernte Bibliothekar nach eigenem Bekunden besser Englisch als Deutsch spricht, fühlt er sich nicht als Engländer. „Alles an mir war Deutsch, bis auf die Sprache“, sagt er.

Manchmal, wenn Lawrence spricht, hört man den englischen Akzent heraus, manchmal benutzt er den falschen Artikel, sagt zum Beispiel „der Studio“. Kann man Deutscher sein, obwohl man Deutsch nur als zweite Sprache spricht? Man kann, findet Mark Lawrence. „Die Sprache ist sehr wichtig, aber sie ist nicht alles. Man muss auch die Sitten eines Landes kennen, und man muss sie zu schätzen wissen“, sagt er.

„Ich finde, dass es hier menschlicher zugeht als in England“

An Deutschland gefällt Lawrence, dass hier alles seine Ordnung hat und die Menschen sich dafür verantwortlich fühlen, dass die Straßen sauber bleiben. „Ich finde, dass es hier menschlicher zugeht als in England“, sagt er. Mit 35 Jahren kehrte Lawrence nach Deutschland zurück, das er in seiner Kindheit verlassen hatte. Er hatte einen Job als Bibliothekar in der Internationalen Schule in Degerloch gefunden. „Ich kam an einem Sommerabend an den Stuttgarter Schlossplatz, ich sah die Leute auf dem Rasen und in den Cafés sitzen und wusste, dass ich am richtigen Ort war“, sagt Lawrence.

Doch der Anfang war schwer, denn das Stottern zu besiegen war für Lawrence auf Deutsch viel mühsamer als auf Englisch. Er nahm an Selbsthilfegruppen teil und wurde so selbstbewusst, dass er begann, auf Deutsch im Stotterfunk zu moderieren. Inzwischen hat Mark Lawrence eine Stuttgarterin geheiratet und ist Vater einer Tochter.
Frühere Sendungen des Stotterfunks kann man auf www.stotterfunk.de online anhören. Das Freie Radio sendet auf Frequenz 99,2 für Antenne und 102,1 für Kabel. Die nächste Sendung des Stotterfunks läuft am 29. November von 19 Uhr und 21 Uhr.