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Header Hochdrucklautsprecher vor Bäumen

Das Sprachrohr droht zu verstummen

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Blick vom Fernsehturm (Regionalteil Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten) vom 24. April 2006

Freies Radio sendet aus Sillenbuch
Von Regine Warth

Sillenbuch. Das Freie Radio für Stuttgart (FRS) benutzt den Äther als Plattform für ideologische Höhenflüge. Am Samstag war der nicht kommerzielle Sender mit einer Live-Sendung zu Gast im Clara-Zetkin-Haus und hat versucht, ein wenig Werbung in eigener Sache zu machen. Denn auch Idealisten brauchen Geld.

Die Höhenluft bekommt nicht jedem. Die Stimme aus dem Off klingt heiser. Rauschen stört den Redefluss auf der Frequenz 99,2. Eine weitere Stimme kämpft sich durch den Äther - ein Sportmoderator des SWR gibt die Fußballergebnisse bekannt: VfB hat verloren. Die Hörer des Freien Radios für Stuttgart ebenfalls: Wer die Hänge von Heumaden und Sillenbuch erklommen hat, ist aus dem Sendegebiet. Independent-Musik und sozialkritische Redebeiträge werden überlagert von Rauschen und applaudierenden Fußballfans. Klarer ist der Empfang nur im Clara-Zetkin-Haus. Kein Wunder, geht der kleine Lokalsender an diesem Samstagabend direkt vor Ort über den Äther - um Neuland zu erschließen.

Heute, so haben es sich die vier anwesenden Moderatoren des Freien Radios für Stuttgart vorgestellt, sollen die Waldheim-Besucher "was auf die Ohren bekommen": Richtig handgemachter Rundfunk - garantiert ohne Werbung und ohne Gewinnspiele. Kreiert von rund 250 Enthusiasten, die sich in ihrer Freizeit hinter das Mikro setzen und Sendungen über alles und jeden produzieren. "Bei uns", so die Philosophie des Senders, "kommt jeder zu Wort, der was zu sagen hat." Vorausgesetzt er hat die richtige politische und soziale Einstellung.

Durch den Lautsprecher dröhnt die Ansage für die nächste Sendung. "Musik für junge Leute" soll nun über den Äther gehen. Doch "junge Leute" sind nicht vor Ort. Eher jung gebliebene Mitvierziger und Rentner. Und die hören weg. Wenden sich lieber der Zeitung und ihrem Schnitzel zu. Die experimentelle Rockmusik wird höchstens als Klangteppich wahrgenommen.
Ob das FRS-Team über die mangelnde Aufmerksamkeit enttäuscht ist oder nicht, lässt es sich nicht anmerken. Janka Kluge kramt ihre CDs aus der Tasche. Die Radiomoderatorin bereitet sich auf ihre Sendung vor, die gleich im Anschluss gesendet wird. Ein Interview mit Claudio Sperandio, dem "Waldheim-Chronisten", soll es geben. So haben es sich die Betreiber des Clara-Zetkin-Hauses vorgestellt. Thema sind der Sinn und die Geschichte des Feiertags am 1. Mai. "Passt zum Sendeort", sagt Kluge und grinst.

Die ehemalige Erholungsstätte der Stuttgarter Arbeiterbewegung ist nicht zufällig als externer Sendeort auserwählt worden. Zum einen fühlt sich der werbefreie Sender politisch gesehen mit dem Waldheim verbunden, zum anderen bekommen die Rundfunkmacher für ihre Unterhaltung eine Spende. "Ein Tropfen auf den heißen Stein", sagt Kluge. Es gibt finanzielle Probleme. Seit Januar 2004 muss das Freie Radio den Sendeplatz mit einem Hochschulradio teilen. "Die Fördergelder der Landesanstalt für Kommunikation wurden daraufhin gekürzt", sagt Kluge. Jetzt hofft das FRS auf die Unterstützung des eigenen Fördervereins. Nur konnten noch nicht genügend Mitglieder geworben werden, um eine stabile Finanzierung zu sichern.

Die Abstinenz von Werbung und Gewinnspielen ist Fluch und Segen zugleich. "Natürlich lässt sich mit Reklame viel Geld machen", sagt Kluge. Doch dann müsste man sich ja anpassen. Etwas, was den Machern des Freien Radios zutiefst missfällt. "Zu groß ist unsere Vielfalt, als dass wir sie auf einen Nenner bringen können", sagt Kluge. Wie zum Beweis verteilt sie ihre orangefarbenen Prospekte auf den Tischen des Waldheims. Darauf sind die Sendungen aufgelistet. "Harakiri - ausgefallene Musik jeglichen Stils", "Jazz funkt", "Sexy Kapitalismus" oder "Chill-Fenster" heißen sie. Die alevitischen oder nigerianischen Migranten kommen ebenso zu Wort wie Schwule oder Lesben, Umweltschützer genauso wie Theaterkritiker. "Wir werden gehört", sagt Janka Kluge fast trotzig. Und das nicht nur von wenigen, sondern von vielen. Jungen ebenso wie alten. Das merkt der Sender anhand der Rückmeldungen.

Sie wollen als Ergänzung gesehen werden, nicht als Konkurrenz zu "den Großen", wie Kluge die kommerziellen Sender gerne bezeichnet. "Die müssen sich am Mainstream orientieren, wir nicht", sagt Kluge, "wir können uns Experimente erlauben." Als Beispiel erzählt sie, wie das Radio vor zehn Jahren die afrikanische Sendereihe "Ghana Vocals" ausstrahlte - sogar über die Landesgrenze hinaus. Die spanischen, portugiesischen und französischen Kollegen baten um Mitschnitte. Zum ersten Mal fühlte sich das Freie Radio als Sprachrohr. "Ginge es nach uns, soll es auch so bleiben", sagt Kluge.

Die Musik im Hintergrund ist aus. Janka Kluges Kollege hat hinter dem Mischpult nicht rechtzeitig die CD gewechselt. Eine Zeit der Stille. Das selbst ernannte Sprachrohr für Minderheiten ist verstummt: off air. Zumindest für einen kurzen Moment.