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07.11.2017 09:00 Uhr Morgenlatte – Theoriegewichse vom Feinsten (eingestellt)

Sendungstitel
Politikwissenschaft- Nachdenken nicht über den Staat, sondern für den Staat

Zitate zum Vortrag
Politologie: Ein Nachdenken – nicht über, sondern für den Staat
I. Die Haupt- und Grundfrage verpackt das Fach ins Proseminar
„Politische Theorie“: Warum gibt es überhaupt
einen und zweitens einen demokratischen Staat? Antwort:
Wegen der Schlechtigkeit der Menschen unten und oben.
„Von zweifellos ausschlaggebender Bedeutung für die Entstehung
und Entwicklung späterer demokratischer Institutionen
und Ideen ist die grundlegende Veränderung des menschlichen
Selbstverständnisses zu Beginn der Neuzeit. Die Tatsache, daß
unter dem Einfluß modernen naturwissenschaftlich­mathematischen
Denkens der Mensch ... sich als isoliertes, von einem
labilen Gleichgewicht zwischen Affekten und Vernunft bestimmtes
Wesen begreifen lernte, das aufgrund eben dieser
Natürlichkeit Besitzer bestimmter natürlicher Rechte ist, muß­
te auch das Verständnis politischer Ordnungen, ihrer Begründung
und Strukturen wie ihres Sinns, tiefgreifend verwandeln.
Sie wurden zu rationalen Konstruktionen, durch die der
Mensch auf verschiedene Weise einem prekären Naturzustand
mit unausweichlichen Gefährdungen für Leben, Freiheit und
Eigentum ein Ende setzen konnte. Konzipierte Hobbes auf der Grundlage dieses modernen rationalen
Naturrechts zur Überwindung des durch das bellum omnium
contra omnes gekennzeichneten Naturzustands in der
biblischen Gestalt des Leviathan eine politische Ordnung, in
der die Staatsgewalt um der Herstellung und Sicherung des
Friedens willen alle politische Freiheit der Bürger aufsog und
ihm nur die privat­wirtschaftliche beließ, so entwarf John Locke
das für die Entfaltung der modernen liberalen Demokratie
so einflußreiche politische Ordnungsmodell, in dem die bürgerliche
Gesellschaft durchaus ohne den (von Hobbes als unbedingt
notwendig postulierten) Katalysator einer autoritären
Staatsgewalt lebensfähig ist und „die Staatsgewalt prinzipiell
von der bürgerlichen Gesellschaft selbst kontrolliert wird“. In
der Konsequenz dieser politischen Philosophie lag es, politische
Herrschaft nur noch dann als legitim zu qualifizieren und
anzuerkennen, wenn sie ­ vielfach unter Rekurs auf das Prinzip
der Volkssouveränität ­ unmittelbar auf die Zustimmung
des Volkes zurückzuführen war und dieses Volk praktisch
durch seine Repräsentanten dauerhaften Einfluß auf die seine
Freiheit und sein Eigentum berührenden politischen Entscheidungen
hatte.In ihrem Drang nach politischer Selbstbestimmung gewann
die bürgerliche Gesellschaft über diesen modernen Parlamentarismus
sukzessive die Möglichkeit, ein responible government
, das heißt eine politisch dem Parlament verantwortliche
und von dessen Mehrheitsverhältnissen abhängige Regierung
durchzusetzen, durch das auch die Exekutivgewalt des Staates
­ wenn auch auf indirekte Weise ­ über das Parlament vom
Willen des Volkes und nicht mehr von dem des Monarchen abhängig
wurde. Die durch die moderne Anthropologie mit ihrer starken Betonung
der Affektstruktur des Menschen vorbereitete, eher pessimistische
Einschätzung politischer Macht und die Erfahrung
des Machtmißbrauchs durch die Mächtigen etwa in den absoluten
Staatensystemen des 17. Und 18. Jahrhunderts führten
zu der konsequenzenreichen Einsicht, daß davor letztlich
nichts wirksamer zu schützen vermöchte als die ­ etwa von
Locke oder Montesquieu auf je verschiedene Weise vorgeschlagene
­ Aufgliederung der politischen Macht auf mehrere,
einander ausbalancierende Machtträger.“ (Theo Stammen, Zur
Geschichte der modernen demokratischen Institutionen, in:Politische Wissenschaft heute, Beck’sche Schwarze Reihe,
München 1971, S. 53­66)
II. Wenn Politologen zu ihrem eigentlichen Gegenstand
kommen, reden sie gleich gar nicht mehr vom Staat, sondern
von der „politischen Realität“ und machen methodische
Vorschriften, wie die zu konstruieren sei. ­ Die Soziologisierung
der Wissenschaft von der politischen Herrschaft.

„Den konstituierenden Gegenstand der Politikwissenschaft
könnte man zunächst allgemein als „politische Realität“ bestimmen.
Diese politische Realität als Objekt der Politikwissenschaft
hat die Eigentümlichkeit, ... dass sie es ( anders als
die Naturwissenschaften) je und je mit einer von den Menschen
durch gesellschaftliches oder kollektives Handeln bewirkten,
von ihnen durch gemeinsame Anstrengung erhaltenen
oder in diesem Prozess auf vielfältige Weise beständig und immer
wieder aufs neue interpretierten und Sinndeutungen unterworfenen
Realität zu tun hat. Für unseren Zusammenhang wesentlich ist die Möglichkeit einer
weiteren Differenzierung dieser politischen Realität ­ entsprechend
der ihr eigentümlichen Verschränkung von subjektiven
und objektiven Elementen ­ in politische Praxis, in politische
Institutionen und in Praxis wie Institutionen normierende
und der jeweiligen konkreten Gestalt dieser politischen Realität
Sinn gebende politische Ordnungskonzeptionen oder ­ideen,
die auf konkreten Erfahrungen der Menschen und ihrer interpretativen
Erarbeitung beruhen. ... Eine politikwissenschaftliche
Analyse, der politischen Realität, die ihrem Gegenstand
gerecht werden will, kann nicht eines dieser Elemente willkürlich
von den anderen isolieren und gleichsam als selbständiges
traktieren; sie ... muß der prinzipiellen Einheitlichkeit der
politischen Realität und damit des unaufhebbaren Bezugs der
drei Elemente aufeinander im Lebensprozeß der Politik eingedenk
bleiben, will sie die politische Realität nicht gründlich
verfehlen. ... Politische Institutionen lassen sich demnach als
Regelsysteme kommunikativer Art, als durch und ausgebildete
Ensembles von sprachlich vermittelten, intersubjektiv geltenden
Regeln verstehen, die politische Praxis bestimmen und die
ihrerseits wieder von konkreten, ebenfalls durch sprachliche
Vermittlung zur intersubjektiven Geltung gelangten Ordnungskonzeptionen
abhängig sind.“ (ebd.)
„In früheren Geschichtsepochen war das Regieren gekennzeichnet
durch Formeln wie „Sorge um das gemeine Wohl“,
„Wahrung des Friedens nach innen und außen“, „Mehrung
und Schutz des Rechts“ ­ Formeln, die wir heute als Leerformeln
bezeichnen müssen, da es weitgehend der Entscheidungsfreiheit
der Herrschenden überlassen blieb, welchen Inhalt
sie diesen Formeln geben wollten. ... zur Kennzeichnung
des modernen Regierens kaum mehr brauchbar. Denn seit dem
letzten Jahrhundert ist ein radikaler Wandel eingetreten: ein
radikaler Wandel in den Strukturen der politischen Gesellschaft,
der zu einem radikalen Wandel des Regierens geführt
hat. (Heute muss) ... die Regierungslehre fragen, wie das
politische System strukturiert ist, in dem regiert wird, wie
demzufolge die Regierungsaufgaben inhaltlich bestimmt sind
oder sein müssten, welches Regierungsinstrumentarium systemadäquat
ist. Regierungen sind Bestandteile von politischen
Systemen, verstanden als soziale Gesamtordnungen.Ihre Generalaufgabee ist es, solche hyperkomplexen Systeme zu steuern mittels der Durchführung einer Vielzahl von Einzelaufgaben.
(Heinz Laufer, Regierungslehre, in: Politische Wissenschaft
heute, München 1971, S. 79­90)
III. Zweck und Aufgabe der verschiedenen Stufen und
Institutionen des politischen Prozesses ist immer ein und
dasselbe: Vermittlung. Sie haben den „Sinn“ den Bürgerwillen
zum Staatswillen zu vereinheitlichen und den
Staatswillen den Bürgern zu vermitteln.
a) Wahlen – Herrschaftsbestellung und zugleich Repräsentation
des Bürgerwillens; Vor- und Nachteile des Mehrheits-
und des Verhältniswahlrechts.
b) „Politische Parteien bündeln, bilden, vereinheitlichen
den Volkswillen.

„In der Demokratie haben allein die Parteien die Möglichkeit,
die Wähler zu aktionsfähigen Gruppen zusammenzuschließen.
Sie erscheinen geradezu als das Sprachrohr, dessen sich das
mündig gewordene Volk bedient, um sich artikuliert zu äußern
und politische Entscheidungen fällen zu können.“ (Stammen,
Das pol. System der BRD, München 1975, S. 52)
„Der Volkswille wäre ohne die Parteien in eine Vielzahl von
Einzelmeinungen zerspalten; es wäre weder ein einheitlicher
Volkswille noch eine brauchbare Staatswillensbildung möglich.
Die Parteien entwickeln unter Einschmelzung und Ausgleich
spezieller Interessen Vorstellungen für eine Ordnung
und Politik des ganzen Gemeinwesens. „(Wellner, Parteienfinanzierung,
München 1973)
„Wähler und Gruppen bilden den „Rohstoff“, der von den Parteien
in die Kanäle der staatlichen Willensbildung zu integrieren
ist.“ (Sontheimer, a.a.O. S. 460)b) Funktion der Parteien
c) Die Funktionen des Parlaments
„Regierungsbildung, Kontrolle der Regierung, Gesetzgebung,
Repräsentation, Legitimation.“
„Legitimität in der modernen parlamentarischen Demokratie
beruht zum einen auf der Befriedigung sozialstaatlicher Leistungsansprüche,
zum anderen auf der funktionierenden Kommunikation
zwischen Parlament und Öffentlichkeit. Unschwer
ergibt sich, daß, idealtypisch betrachtet, ein Teil der dem Bundestag
zugeschriebenen Funktionen auf Evidenz, ein anderer
auf Effizienz abzielt. ... Das bedeutet für die Verfahrensstruktur
gewiß, daß sachrationale Abstriche an totaler Transparenzerwartung
der politischen Öffentlichkeit angebracht sind;
mehr aber noch bedeutet es den Zwang zur Organisation parlamentarischer
Willensbildung unter dem Aspekt ständiger demokratischer
Legitimation, d.h. Zwang zur öffentlichkeitsorientierten
Wahrnehmung der Bundestagsarbeit. Als Gesamtaufgabe
des BT läßt sich daher bestimmen: Legitimation durch
Kommunikation und Effizienz. Da aber auch die parlamentarische
Leistungsfähigkeit der kommunikativen Vermittlung im
politischen Prozeß bedarf, erscheint ohne Widerspruch zum
Postulat multidimensionaler Optimierung eine weitere Zuspitzung
erlaubt: Legitimation durch Kommunikation. Der spätmarxistischen
Grundsatzkritik an dieser Legitimationsfunktion
kann systematisch insofern nicht gefolgt werden, als sie vom
Konzept der Herrschaftslosigkeit und Selbstregierung des Volkes
im Wortsinne ausgeht: mit der Herrschaft fiele natürlich
auch das Problem der Legitimation dahin. Da es aber keine
funktionsfähige Alternative zum System repräsentativer Selbstregierung der Gesellschaft, also zur modernen Demokratie
als legitime, verantwortliche und rechtsstaatliche Herrschaftsordnung
gibt, bleibt Herrschaft bestehen, ihre Legitimität
hingegen ein entscheidender verfassungsgeschichtlicher
Fortschritt und ihre ständige Legitimation das wichtigste demokratische
Postulat.“ (Handbuch des politischen Systems der
BRD, Hrsg. Kurt Sontheimer u. Hans Röhring, München
1978, S. 125)
IV. Seine verkehrte Abstraktion, Vermittlung von oben
und unten im Staat, ist für das Fach einerseits der einzige
und ganze Auftrag der Politik; genaugenommen hält es
den Erfolg dabei für den eigentlichen Zweck und das
Sachgesetz der Politik, dem sie nicht auskommt: Sie muss
Legitimität herstellen, dann hat das Regieren freie Hand
und kann sich auf die Gehorsamsbereitschaft der Regierten
verlassen. Umgekehrt, so die grandiose Tautologie, ist,
solange die Regierten sich das Regiert-Werden gefallen
lassen, Legitimität offenbar gegeben. Wenn nicht, hat die
Politik versagt und die Politologie wird kritisch.
„Wenn es dem Staat nicht gelingt, die dysfunktionalen Nebenwirkungen
des kapitalistischen Wirtschaftsprozesses in den
Grenzen zu halten, die vom Wählerpublikum noch akzeptiert
werden; wenn es auch nicht gelingt, die Schwellen der Akzeptabilität
selbst zu senken, sind Erscheinungen der Delegitimation
unvermeidlich.“ (Habermas, Legitimationsprobleme im
modernen Staat, in Politische Vierteljahresschrift, Nr. 7/1976)
V. In der empirischen Wahl- und Parteienforschung, der
Ermittlung von Wahlmüdigkeit und Politikverdrossenheit,
von Wählermotivation und -Bewegungen, etc. sucht die
politische Wissenschaft die Erfolgsbedingungen von Legitimität
zu ermitteln und bietet sich damit der Politik als Beratungsorgan
an.
Peter Decker, Erlangen 29.4.14

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